Ansprache zum Volkstrauertag 2024

von Anja Bohner, Ortsvorsteherin Langnau und Mitglied des Freie Wähler Tettnang e.V.

"Ich möchte heute an diesem Gedenktag einen Redevorschlag von Martin Pollok aus dem Jahr 2021 mit der Überschrift „Krieg und Demokratie“ verlesen. Diese Zeilen haben mich angesprochen, weil wir in diesen unsicheren Tagen mehr denn je für unsere Demokratie und für unser Europa eintreten müssen:

Das Gedenken an die beiden großen Kriege des 20. Jahrhunderts und ihre zahllosen Opfer ist in Europa zur Tradition geworden, mehr noch, zu einer humanitären Verpflichtung, der wir uns nicht entziehen dürfen. Es handelt sich nicht um leere Rituale, die in Sonntagsreden abgefeiert werden, sondern um einen integralen Bestandteil unseres Lebens, unseres Seins, denn erst das gelebte Bekenntnis zur Vergangenheit macht uns zu dem, was wir sind. Das gilt auch und vor allem für die dunklen Seiten der Geschichte.

Wir können sie nicht abstreifen und vergessen oder gar verdrängen – das würde bedeuten, unsere eigenen Wurzeln abzuschneiden.

Es gibt in Europa zahllose Stätten, die an die Grausamkeit und Zerstörung der Kriege erinnern, an blutige Schlachten, aber auch an den Holocaust und die Verbrechen an Kriegsgefangenen und Angehörigen von Minderheiten. Viele dieser Erinnerungsorte sind längst aus unseren Blicken geschwunden, sind gleichsam versunken in scheinbar unschuldigen Landschaften, wie Ruinen vergangener Zeiten. Sie wurden überwuchert von Gras, Büschen und Bäumen. Oft sollten diese Örtlichkeiten ganz bewusst zum Verschwinden gebracht werden, indem Wälder über ihnen gepflanzt oder Straßen und Siedlungen errichtet wurden, um die Spuren der Massaker zu verdecken. Nicht gedacht werden sollte der Ermordeten, der Juden, Sinti und Roma, der Widerstandskämpfer und der zahlreichen anderen Opfer, sie sollten anonym und gesichtslos aus der Erinnerung getilgt werden. 
Umso wichtiger ist es, in Gedenkfeiern nicht nur an die gefallenen Soldaten der ehemaligen Kriegsgegner zu erinnern, sondern auch an die Menschen, die jahrelang an den Rand gedrängt und verschwiegen wurden. 

Natürlich gilt unser Gedenken auch den Soldaten der unterschiedlichen Kriegsparteien, ohne Ansehen ihrer Herkunft, denn auch sie haben unsäglich gelitten, wurden gequält und in den Tod getrieben. Wenn wir vor den Gräbern stehen gibt es keinen Unterschied mehr zwischen den Nationalitäten und Uniformen, sie wurden alle Opfer des Krieges egal ob Russen, Deutsche, Österreicher, Polen oder Franzosen, wobei das nicht bedeutet, dass wir die besondere Verantwortung und Schuld vergessen dürfen, die gerade Deutschland auf sich geladen hat.
In diesem Zusammenhang gedenken wir auch jener Menschen, die heldenhaft Widerstand geleistet und dafür mit ihrem Leben bezahlt haben.
Alles das machte und macht das schmutzige Gesicht des Krieges aus. Dieses hat nichts Edles und Heroisches an sich, wie Hurrapatrioten und Kriegstreiber aller Schattierungen gern behaupten. Es gibt keinen Grund, den Krieg zu verherrlichen. Das gilt für die beiden großen Kriege ebenso wie für die zahlreichen bewaffneten Auseinandersetzungen, die Europa bis heute erschüttern. 

Die Wurzeln dieser Katastrophen und Krisen sind in den meisten Fällen in der Vergangenheit zu suchen, in Konflikten, die nach außen hin vielleicht beigelegt wurden, doch innerlich vor sich hin schwären, bis sie plötzlich wieder aufbrechen in Hass und Gewalt.
Das bedeutet, dass wir uns immer wieder aufs Neue mit der Geschichte und ihren düstersten Kapiteln beschäftigen und das Gespräch mit unseren Nachbarn suchen müssen.
Die Sprache der Verachtung und des Hasses, der Abgrenzung gegenüber dem Anderen ist trotz aller schlimmer Erfahrungen mit dem Krieg und seinen Folgen keineswegs für immer verstummt, im Gegenteil, sie scheint gerade heute erneut an Überzeugungskraft zu gewinnen, wie ein Blick auf die politische Landkarte Europas zeigt.

Wir erleben europaweit ein Erstarken jener verhängnisvollen Ideologien und Propagandamuster, die vor einem dreiviertel Jahrhundert den Kontinent beinahe in den Abgrund gerissen haben. Es ist besorgniserregend, dass wir aus den Katastrophen der Vergangenheit offenbar so wenig gelernt haben.
Das dürfen wir nicht achselzuckend hinnehmen, als handle es sich um ein bedeutungsloses Versehen. So ist nun einmal der Gang der Dinge, die Zeiten ändern sich, heißt es dann.
Solche lahmen Erklärungen sind ein idealer Nährboden für die neuen radikalen Nationalismen, gepaart mit Fremden- und Demokratiefeindlichkeit.
Diese Entwicklungen sind überall auf unserem Kontinent und weit darüber hinaus zu beobachten. 
Kämpfen wir tatsächlich gegen Windmühlen? Manchmal könnte man das fast meinen. Doch Pessimismus und Resignation sind keine guten Ratgeber. Wir dürfen nicht verzagen und müssen alle unsere Kräfte aufbieten um uns dem Vergessen und Verdrängen entgegenzustemmen – wir müssen unsere Demokratie vor Schaden bewahren. Wenn wir an Krieg denken, dann haben wir immer auch die Demokratie vor Augen. Denn sie ist der wichtigste Schutz gegen solche Entwicklungen und sie ist folgerichtig auch das erste Opfer autoritärer Machtansprüche.
In einer funktionierenden Demokratie können sich diese aber nie durchsetzen. 

Unser Gedenken an den Krieg und seine Opfer ist also stets verbunden mit dem Kampf um die Demokratie. Die Vergangenheit hat uns gelehrt wie schnell es geht die Demokratie für obsolet zu erklären und am Ende ganz abzuschaffen

Das dürfen wir nicht zulassen, dagegen müssen wir uns mit allen Mitteln wehren, wenn wir uns die Freiheit bewahren wollen.

Gedenken spielt dabei eine wichtige Rolle, denn es schärft unseren Blick und unsere Sinne, es ist ein Warnruf, ein immer neuer Anstoß uns der Vergangenheit zu stellen und sie lebendig zu halten. Das sind wir den Opfern schuldig, aber auch uns selber und unseren Nachkommen, die im wachen Wissen um die Geschichte aufwachsen mögen."
 

- Anja Bohner, Ortsvorsteherin Langnau und Mitglied des Freie Wähler Tettnang e.V. 
im Gottesdienst zum Volkstrauertag 2024